Pietismus: Kirche in der Kirche

Pietismus: Kirche in der Kirche
Pietismus: Kirche in der Kirche
 
Die langen, wenig fruchtbaren Glaubensauseinandersetzungen, die im Anschluss an die Reformationszeit die Einheit Europas weitgehend zerstört hatten, waren im Barockkatholizismus einer neuen Frömmigkeit und Verinnerlichung des kirchlichen Lebens gewichen. Bereits im 17. Jahrhundert finden sich ebenso auch im Protestantismus religiöse Erneuerungsbewegungen, in denen die Schultheologie des konfessionellen Zeitalters und die erstarrten Formen des Gemeindelebens überwunden werden sollten. Die neben dem angelsächsischen Puritanismus bei weitem wichtigste Strömung stellte jedoch der in Deutschland aufkommende Pietismus dar. Trotz seiner sachlichen Nähe zur Aufklärung und inhaltlichen Parallelen zum katholischen Jansenismus oder dem jüdischen Chassidismus blieb der Pietismus jedoch weitgehend innerhalb der eigenen konfessionellen Grenzen wirksam. Prägend wurde für den Pietismus die leidvolle Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges, der als Versagen der reformatorischen Bewegung verstanden wurde und damit den Ausgangspunkt des intensiven Bedürfnisses seiner Anhänger nach Frieden bildete.
 
Nachdem die innerprotestantischen Auseinandersetzungen durch die Konkordienformel von 1577 beigelegt waren, etablierte sich an den Universitäten bald eine protestantische Theologie, die das reformatorische Gedankengut wie die Rechtfertigungslehre oder das Schriftprinzip in ein wissenschaftliches System überführte, sich aber gleichzeitig von der religiösen Praxis des Volkes immer stärker zu entfernen begann. Gegen diese Entwicklung wandte sich der Pietismus mit der Forderung nach einer »zweiten« Reformation, nach einer »Kirche in der Kirche«, in der Frömmigkeit, Innerlichkeit und authentisch gelebter Glaube anstelle der Orthodoxie im Vordergrund stehen sollten. Die Wurzeln des Pietismus reichen dabei bis zu Johann Arnd zurück, der in seinen 1605 bis 1610 erschienenen, litararisch überaus erfolgreichen »Vier Büchern vom wahren. Christentum«, auf eindrucksvolle Weise Traditionen der Deutschen Mystik und des Neuplatonismus aufgegriffen hatte. Arnd vertrat eine individualistische Heiligungsmystik, die die Gläubigen aus der auch unter Christen verbreiteten Gottlosigkeit (lateinisch »impietas«) zur wahren Gottseligkeit (»pietas«) führen wollte.
 
Als eigentlicher Begründer des Pietismus lutherischer Prägung gilt jedoch Philipp Jacob Spener, der in seiner Schrift »Pia desideria oder Herzliche Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen« von 1675 massive Kritik an allen Ständen in Kirche und Gesellschaft übte: Die Obrigkeit tadelte er für ihr mangelndes Interesse und gleichzeitig für ihren autokratischen Umgang mit religiösen Fragen, die Prediger für ihre theologische Polemik, die sie auf eine Stufe mit der päpstlichen Kirche stelle, und die Laien schließlich für die Vernachlässigung von Glaube und Nächstenliebe im Alltag. Sein Reformprogramm empfahl für Kleriker wie Laien gleichermaßen vertiefte Studien der Schrift in Bibel- und Erbauungsstunden, die sie zu frommer Gemeinschaft und Praxis sowie gegenseitiger Seelsorge befähigen sollten. Darüber hinaus regte er die Gründung von Laiengemeinschaften, »Collegia Pietatis« oder Konventikeln, an, in denen er dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen zum Durchbruch verhelfen wollte. Seine feste Überzeugung, der Mensch sei aus sich heraus fähig, zur Vollkommenheit zu gelangen, bedeutete allerdings faktisch, von zentralen reformatorischen Prinzipien wie der Rechtfertigung allein aus dem Glauben abzurücken. Besonders in Württemberg fanden Speners Ideen starken Anklang.
 
Die wichtigsten Erben Speners in der zweiten und dritten Generation der Pietisten zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren August Hermann Francke und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Francke verhalf dem Pietismus in mehr als drei Jahrzehnten, in denen er als Prediger, Theologe und Pädagoge in Halle wirkte, zum entscheidenden Durchbruch: Für die vernachlässigte Jugend gründete er eine Armenschule und ein Waisenhaus, das sich schon bald zu einer Schulstadt, einem riesigen Komplex pädagogischer Anstalten und regelrechten Wirtschafts- und Handelsunternehmen, entwickelte: die »Franckesche Stiftungen«. Auch reformierte er das Theologiestudium in Halle; indem es den Studenten Predigtkurse und eine Anleitung zur Katechese anbot sowie Gelegenheit zur Mitwirkung am Lehrbetrieb und zur pädagogischen Betreuung der Jugendlichen gab, erhielt es eine praktische Ausrichtung. Franckes universitäres Programm, das auf unnötigen wissenschaftlichen Ballast verzichtete, veranlasste den preußischen Staat, für Pfarrer und Lehrer ein Studium in Halle zwingend vorzuschreiben; de facto rekrutierten sich aus seinen Absolventen auch viele Offiziere und Beamte.
 
Zinzendorf zählt ebenso zu den Schülern von Franckes Institut. Seine religiöse Einstellung ist von einer intensiven. Christozentrik gekennzeichnet; seine Betonung des Leidens Christi mündet in eine ausgeprägte Blut-, Wunden- und Kreuzestheologie. Zinzendorf nahm Mitglieder der Böhmischen Brüder auf seinen Gütern in der Oberlausitz auf. Mit diesen Vertriebenen der Gegenreformation gründete er 1722 die Herrnhuter Brüdergemeine, deren Integration in die Lutherische Landeskirche sich aber wegen ihrer radikal kirchenkritischen Ausrichtung immer wieder schwierig gestaltete und schließlich auch scheiterte.
 
So erweist sich der Pietismus keineswegs als eine homogene Bewegung: Zu seinen Randerscheinungen zählte schon im 17. Jahrhundert der Präzisismus des niederländischen Professors Gisbertus Voetius, der die Forderung nach präziser Befolgung der biblischen Gebote im alltäglichen Leben erhob, ebenso wie die Anhänger des Jean de Labadie, dessen in vollkommener Gütergemeinschaft lebende Hausgemeinde 1670 aus Amsterdam vertrieben wurde. Überhaupt führte der individualistische Ansatz der pietistischen Frömmigkeitspraxis immer wieder zu Abspaltungstendenzen. Theologisch eher wenig bedeutsam waren Vertreter eines politisch-utopischen Pietismus, etwa in der kommuneähnlichen Gemeinschaft der Eva von Buttlar, in der die Prinzipien von Gütergemeinschaft und Kollektivismus auch für das Sexualleben galten und die darum »Buttlarsche Rotte« genannt wurde. Daneben finden sich eine Fülle chiliastischer Strömungen; hier erhoffte man von Napoleon die Errichtung eines Tausendjährigen Reiches oder sehnte den endzeitlichen Fall Romsherbei.
 
Als bedeutendster Kopf des theologisch-radikalen Flügels gilt Gottfried Arnold, der bereits am Ende des 17. Jahrhunderts wirkte. Er verstand jede Form christlicher Gemeinschaft, jede Kirche, als Abkehr vom eigentlichen, rein innerlichen. Christentum. Folgerichtig überbrückte er in seiner »Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie«, die von 1699 bis 1703 erschien, nicht nur die Kluft zwischen den Konfessionen, sondern wurde gleichzeitig zum Pionier des theologisch-wissenschaftlichen Bemühens um historische Objektivität. Arnolds Thesen wurde eine außergewöhnlich breite Rezeption zuteil, die nicht nur die Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts beeinflusste, sondern auch bis Lessing, Goethe und Nietzsche reichte.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Band 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.—18. Jahrhundert. München 1994.
 
Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.
 Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
 Mühlenberg, Ekkehard: Epochen der Kirchengeschichte. Heidelberg u. a. 21991.
 Wallmann, Johannes: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen 41993.
 Wallmann, Johannes: Der Pietismus. Göttingen 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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